Ausbreitung ... und basta

Junger Salbei mit den typischen trichterförmig nach oben geöffneten Blättern
Als Student seinerzeit in München bin ich öfter mit dem Rad durch den englischen Garten gefahren. Irgendwann im Frühjahr kam mir auf einmal an einer Stelle ein unglaublich würziger Duft entgegen, ein Duft von Zwiebel oder Lauch. Damals kannte ich mich mit Pflanzen noch überhaupt nicht aus, wusste nicht, ob hier irgendwo Knoblauch angepflanzt war, ob die Pflanze überhaupt essbar oder giftig sei. Ich sah lediglich ein weißblühendes Kraut, das eine riesige Fläche bedeckte. Alles weiß. Kaum etwas anderes, was sonst zu dieser recht frühen Jahreszeit aus dem Boden lukt. Hätte ich damals gewusst, dass es sich um essbaren Bärlauch gehandelt hätte, es wäre für mich, den Zwiebelliebhaber, das reinste Eldorado gewesen.
Bärlauch gibt's in der freien Natur fast immer nur als Eldorado. Ihn vereinzelt anzutreffen kommt nur sehr, sehr selten vor. Und das ist auch schon sein mit Abstand auffälligstes Merkmal - die enorme Ausbreitung (in speziellen Arealen).
Es ist ja eine große Kunst, das Wesen einer Pflanze zu ergründen. Dazu ist es oft nützlich, etwas über die Pflanzenfamilie zu wissen, welche Gestaltmerkmale gewöhnlich und welche außergewöhnlich für diese Familie sind. Und natürlich, wie einem die Pflanze anmutet, welchen Gestus sie ausstrahlt (den man manchmal innerlich nachgestalten oder nachfühlen kann).
Die Bärlaufpflanze als Kollektiv
Der Bärlauch ist ein Sonderfall, denn am Einzelexemplar lassen sich kaum Besonderheiten entdecken - jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Allerdings verhält es sich mit den Einzelexemplaren und der Individualität bei Pflanzen deutlich anders als bei Tieren (siehe dazu auch den Artikel 'Überraschendes Wissenswertes über Pflanzen'). Individualität gibt es bei Pflanzen streng genommen nicht. Viele Pflanzen können sich über Ausläufer vermehren, so dass dasselbe (nicht nur das gleiche) Exemplar weit verteilt aus dem Boden schaut. Es kann von Hand abgetrennt und anderswo eingesetzt werden, dann bleibt es trotzdem dieselbe Pflanze - an vielen Orten. Streng genommen ist dann eine Pflanze dann nicht das einzelne Exemplar, sondern die Art (man könnte zur Unterscheidung dann 'die PFLANZE' schreiben, wenn sie als Art gemeint ist). Und so kann es sein, dass Wesensmerkmale einer PFLANZE sich auch nur an der Art zeigen und eben nicht am Einzelexemplar.

So schlicht - ohne jedes Gedöns - sind die Pflänzchen gestaltet
Extrem schlichter Aufbau des Bärlauchs
Das genau ist beim Bärlauch der Fall. Viel schlichter könnte er kaum gebaut sein. Zwei lanzettliche Blätter, in der Mitte der Blütenstängel mit einer kugeligen Dolde. Jede Einzelblüte ohne allen Spökes, 6 Blütenblättchen, paar Staubfäden dazu und fertig. Okay, die Schlichtheit ist so auffällig, dass sie auch schon wieder herausstakt aus dem Normalen und als Wesenskennzeichen angesehen werden kann. Wie heißt es nicht so schön schon in der Bibel: Selig sind die geistig Armen (sprich die Schlichten, Unverkopften, Unmittelbaren). Der Bärlauch ist von ebendieser Einfachheit. Und er ist gewissermaßen tatkräftig. Das ist wie beim Menschen. Zu viel Vergeistigung geht meistens mit einem Mangel an Tatkraft einher. Da wird zu viel am Detail herumüberlegt und zu wenig geschaffen. Aber Bärlauch zeigt Durchsetzungskraft. In Wäldern, seinem bevorzugten Standort, nimmt er im Frühjahr, solange die Bäume noch viel Licht durchlassen, manchmal hektarweise Flächen ein. Paar Wochen später ist er wieder fort, zurückgezogen in die Erde, anderen Pflanzen Platz machend.

Ein Bärlauch kommt selten allein: 'kleine' Bärlauch-Ansiedlung in einem Park
Machtvolles Durchsetzen auch im Duft
Wenn ich an Bärlauch denke, kommt mir immer wieder Gerhard Schröders berühmtes 'Basta' in den Sinn. Er war ja nun auch nicht gerade der fein differenzierende Polit-Philosoph, sondern ein Macher, teils rüde, sich breit machend, machtbewusst. Schröder ist so was wie Bärlauch in Menschengestalt, und er hat ja auch kräftig seine 'Duftmarken' gesetzt - wie der Bärlauch. Seine Ausbreitung in der Fläche ist schon eindrucksvoll, seine Ausbreitung im Duft übertrifft das noch. Wer schon mal ein Glas Bärlauchpesto offen hat stehen lassen, wird den Duft sogleich im ganzen Raum, bald danach im ganzen Haus wahrgenommen haben. Es ist phänomenal. Kein anderer Pflanzenduft ist so dominant raumgreifend. Fast aufdringlich. Und derb. Aber gut!

Das sich von der morphologischen Rückseite sich entrollende Bärlauchblatt
Platz da, jetzt komm' ich!
Es ist völlig faszinierend zu sehen, wie sich Pflanzen in ihrer Gestaltbildung ausdrücken, wie sie Merkmale hervorbringen, die eigentlich keinen biologischen Sinn machen, sie es aber trotzdem tun, weil sie tatsächlich so etwas wie ein Ausdrucksverlangen haben (bisschen heikel, bei Pflanzen von einem Verlangen zu sprechen, aber der Gedanke drängt sich einfach auf). Es gibt nämlich doch eine große Besonderheit an jedem Einzelexemplar, was freilich nur Botanikern auffällt. Der Bärlauch kehrt seine morphologische Blattoberseite nach unten. Man sieht es hier auf dem Bild. Das Blatt entrollt sich von seiner Unterseite in die Öffnung, neigt sich aber gewissermaßen auf die falsche Seite. Wenn wir uns die Blätter wie Hände denken, die normalerweise empfangend zum Himmel geöffnet sind, dann sind hier die 'Handflächen' nach unten gedreht, ... jetzt bleibt mal schön flach, ich habe hier das Sagen. So wirkt der Gestus. Man kann an dieser Stelle nicht nach evolutionären Vorteilen fragen. Es geht um lebendigen Selbstausdruck. Da gibt es kein Warum.
Die physischen Heilwirkungen des Bärlauchs
Von diesem Gestus lässt sich schon so ungefähr auf seine Heilwirkung schließen. Bärlauch ist ein großer Aufräumer. Mein persönliches Bild dafür ist: Wir haben eine chaotischen Schreibtisch vor uns, und dann, in einer Bärlauch-Stimmung, gehen wir einmal mit dem ganzen Arm darüber und schieben den ganzen Tisch frei. Schluss mit lustig. Alles frei, recht radikal, jetzt kann wieder gearbeitet werden. Wenn wir uns auch noch vor Augen halten, dass die meist feuchten Waldflächen sein Stammgebiet sind, er also vermutlich auf die wässrige Organisation einwirkt und gleichzeitig scharf schmeckt, also etwas mit dem Element Feuer zu tun hat, dann können wir erahnen, dass sein Wirkfeld vor allem das Blut sein wird. Es ist Energieträger und wässrig zugleich.
Bärlauch ist in der Tat ein hervorragender Blutreiniger, ganz besonders geeignet, um Frühjahrsmüdigkeit und Ablagerungen in den Arterien zu vertreiben, auch im Darm. So beugt er, kurmäßig über einige Zeit im Frühjahr angewendet, Arteriosklerose vor, auf diesem Wege auch einem erhöhten Blutdruck. Er kann den Cholesterinspiegel, der für Verkalkungen mitverantwortlich ist, erfolgreich senken. Durchblutungsstörungen lassen nach, die Hände oder Füße werden nicht mehr so schnell kalt, die Leistungsfähigkeit steigt, auch der Tatendrang. Im Zuge des Groß-Reinemachens ist dann auch möglich, dass manche Ekzeme verschwinden (also solche, die mit Blutunreinheit zu tun haben).
Beobachtet worden ist auch ein verbessernder Einfluss auf das Gedächtnis - klar, wenn vieles vom Müll bereinigt wird, wird der Geist klarer.
Und der Tatendrang wächst. Auch das ergibt sich aus dem vorher Gesagten von selbst. Die die Durchblutung und Energielieferung wieder reibungsfreier läuft, muss diese Energie ja auch ihrerseits Ausdruck finden. Es stellt sich also die Tendenz ein, offensiver in die Welt hinaus zu gehen - yes, it's spring, let's do it.
Die seelischen Wirkungen des Bärlauchs
Das Machtvolle, Schlichte, wenig Differenzierte, was den Bärlauch auszeichnet, steht ja zunächst einmal nicht in fraglos gutem Ruf. Möchte man ja vielleicht nicht haben. Aber für Menschen, die immer zu zögerlich sind, nicht so recht in die Pötte kommen, sich hinter zu viel Feinheit und Differenzierung letztlich verstecken, sich letztlich nicht zu zeigen wagen, für die ist Bärlauch ein Segen. Es kommt ja immer auf das Maß an. Wer zu vieles be-rück-sichtigt, der kommt wenig vorwärts und für den ist ein Schwapp Rücksichtslosigkeit etwas Positives (die von Haus aus Rücksichtslosen müssen hier mal weghören). Es braucht ein Gleichgewicht zwischen den Polen des Abwägens und einer bedachten Behutsamkeit und des Entscheidens und Durchsetzens. Wenn hier ein Ungleichgewicht auf Erstgenanntem liegt, gleicht Bärlauch dies aus.
Probiere es selber aus. Hilfreich ist dabei auch, sich das Bild des Bärlauchs vor Augen zu halten. Im Duft entsteht ohnehin schon ein seelischer Reflex, der nun nicht nach Veredelung und Sublimation drängt. Eher geht es um Komplexitätsreduktion, dass wir über das Klein-Klein mehr hingesehen und hinweggehen können. Da ist tabula rasa mal ein Wort - Blutreinigung im Seelischen.
Übrigens...
Auch wenn der Duft der Pflanze sehr durchringend ist, währt er doch nicht so nachhaltend wie z.B. beim Knoblauch. Wer Bärlauch gegessen oder eine Bärlauchtinktur eingenommen hat, muss nicht fürchten, 2 Tage in soziale Isolation gehen und solange niemanden guten Gewissens mehr küssen zu können.