Spannungen ableiten, erden

Das überaus 'fahrig' wirkende Blattwerk des jungen Baldrians. Auch die Einzelblätter sind alle unregelmäßig geformt.
Baldrian kennt jeder. Vom Namen her. Die Pflanze selbst jedoch kennen nur die wenigsten. Das liegt zum einen daran, dass er wild wachsend nicht all zu häufig zu finden ist, wenn dann zumeist im Halbschattigen. Und zum zweiten wird er als Doldenblütler meist im Einerlei der sonst herumstehenden weißen Doldenblütler leicht übersehen. Gleichwohl gibt es auch sehr deutliche Unterscheidungsmöglichkeiten gegenüber jenen vielen anderen Doldenblütlern.
Das herausragendste Kennzeichen ist vermutlich der unglaublich blumige Duft der jungen Blüten - geradezu betörend. Wer in einem ganzen Feld von jung blühenden Baldrianpflanzen steht, kann durch die süßliche Schwere des Duftes sogar Kopfschmerzen bekommen - so intensiv ist er. Der Duft verändert sich deutlich, je älter die Blüten sind. Dann steigt von unten, letztlich von der Wurzel her, ein völlig anderer, ziemlich erdiger Duft auf.
Er deutet sich bereits im Blattwerk an. Zerreibt man die Blätter, riechen sie schon deutlich herber und weniger 'dufte'. Und je weiter man sich zur Wurzel heranschnuppert, wird die herbe Note immer intensiver. Manche sagen, die Wurzel stinke - nach Katzenharn (so ungefähr). Der Duftverlauf von oben nach unten ist einzigartig, genauso wie dieses allmähliche Vordringen des Erdig-Wurzeligen hinauf in die Blütenregion - ein Charakteristikum der Pflanze.

Der von der Erde enthobene, duftende und "verluftende" Blütenstand
Der wunderbare Duft junger Blütenstände könnte dazu verführen, sich ein Baldriansträußchen zuhause in die Vase zu stellen. Viel Freude hat man daran nicht. Die leicht kantigen Blütenstängel sind innen hohl, also luftgefüllt, wie das ja z.B. auch beim Löwenzahn oder beim Holunder und etlichen anderen Pflanzen der Fall ist. Ihre Stabilität am Standort ist durchaus bemerkenswert, zumal die Stängel teils knapp mannshoch wachsen können und Winden und Wetter wacker trotzen. Aber abgepflückt in die Vase gestellt, knicken sie sehr schnell um. Es ist also nicht das Wasser, was den Druck und die Stabilität aufrecht erhält, sondern die Wurzel, die diesen Druck aufbaut. Baldrian braucht die Verbindung zur Wurzel für seine Stabilität, braucht die Verwurzelung im Erdreich.
Vermittlung zwischen den Elemente Luft und Erde
Die Pflanze hat also sehr deutlich etwas mit dem Luft-Element zu tun. Man könnte auch sagen: Kurz nachdem das Blattwerk mehr oder weniger flüchtig und bisschen fahrig ausgebildet ist, verluftet und verduftet die Pflanze. Der Blütenstand enteilt dem Blattwerk, nimmt geradezu nachlässig nur ein paar wenige, dünne Blättchen mit, aber dann entschwebt die Pflanze eben im Luftigen. Auch wenn sie verblüht, bleibt sie als durchscheinendes Gerippe stehen.

Die nicht ganz eindeutige Farbe der Blüten
Wäre die Pflanze ein Mensch, wäre sie ziemlich flatterhaft, viel im Kopf, in abgehobenen Fantasie- und Ideenwelten unterwegs, wenig geordnet. Das einzelne Blatt selbst ist schon irgendwie ungleichmäßig gezähnt, wie überhaupt fast alles an der Pflanze ein bisschen ungleichmäßig ist, über den Duft bis hin zur Blütenfarbe. Auch sie ist nicht eindeutig weiß, sondern irisiert (schimmert) ein bisschen - und nicht besonders gut definiert - ins Violette.

Der imposante Wurzelballen
Das Hauptmerkmal der Pflanze allerdings ist nicht zu sehen. Es liegt unter der Erde: Die Wurzel. Bei einem ordentlich ausgewachsenen Exemplar ist sie erstaunlich buschig. Ein bisschen sieht sie aus wie ein Nikolausbart mit zahllosen langen, glatten Wurzelhaaren. Für das, was an Pflanze oben wächst, bildet diese Wurzel ein einen extrem ausgeprägten und eindrucksvollen Gegenpol.
Auch die Form selbst ist außergewöhnlich. Normalerweise zeigen Pflanzen ein mehr oder weniger netzartig verzweigtes Wurzelwerk, mal haarfein, mal ausgreifender, mal tiefer oder gar eine Pfahlwurzel (der Spitzwegerich zeigt beides, Wurzelwerk plus Pfahlwurzel). Aber etwas so Buschiges, Dichtes und Glattes gibt es so kein zweites Mal.
Ihr Duft ist, wie oben schon gesagt, sehr erdig. Ich persönlich empfinde ihn nicht als unangenehm, andere mögen ihn nur sehr wenig. Alle Baldrian-Heilmittel jedenfalls, ob Tinkturen oder Tabletten, sind Wurzelextrakte.
Die physischen und seelischen Heilwirkungen des Baldrians
Aus dem Gestaltausdruck der Pflanze wird sehr unmittelbar ihr Wirken klar. Sie leitet Spannungen ab und erdet. Sie holt die Energien vom Kopf wieder ins Becken, in den Körper-Grund, beruhigt alles Flatterhafte, Weltentrückte, Abgehobene. Menschen, die unglaublich viel plappern, gehäuft Uninteressantes, Unverbundenes von sich geben, was nichts mit der eigenen Person zu tun hat, und die von ihren Gedankengewittern noch bis in die Nacht hinein verfolgt werden, die sind mit Baldrian bestens beraten. Auch Prüfungsstress ist eine Kopfangelegenheit, die durch die Gabe von Baldrian deutlich gelindert werden kann. Vor allem verbessert sich dann zumeist auch die Konzentrationsfähigkeit, weil eben nicht mehr die Gedanken wild durcheinander fliegen und einen letztlich kirre machen.

Stängel, vergrößert
Das Ableitende (von Spannungen) deutet sich übrigens bereits oberirdisch in der Gestalt des Stängels an. Der ist nämlich nicht einfach nur rund oder kantig, sondern weist durchgehende Rillen in Längsrichtung auf. Als würden da Drähte von oben nach unten führen. Ist das nicht interessant? So viele Zeichen!
Baldrian ist per se kein Müde- oder Dösig-Macher, sondern ein Erde-Vermittler, der auch Aufmerksamkeit und Konzentration fördern kann.
Von daher liegt nahe, dass Baldrian auch beruhigend auf nervöse Verdauungsvorgänge (also auf das Erdige im Menschen) wirkt. Ausdruck nervöser Verdauungsbeschwerden können Blähungen sein, auch Darmkrämpfe oder Magenkrämpfe. Im Extremfall kann durch anhaltende Nervosität oder zu viel Dauerstress auch eine Magenschleimhautentzündung entstehen. Wenn Nervosität und Stress also mögliche Ursachen für eine Magenschleimhautentzündung sind, dann lohnt es sich, Baldrian unterstützend zu anderen Heilungsmaßnahmen einzunehmen (im Fall anderer Ursachen hilft die Pflanze wenig). Ähnliches gilt für Gallenbeschwerden.
Es gibt viele Heilpflanzen, die beruhigend wirken oder bei ähnlichen physischen Beschwerden empfohlen werden. Man muss genau hinschauen, welche Qualität verlangt wird. Wenn eine Magenschleimhautentzündung von einer Fehlernährung herrührt, hilft Baldrian herzlich wenig. Bluthochdruck hilft er auch nur dann zu senken, wenn nervöse Spannungen die tiefere Ursache dafür sind.