Jeden Tag ein neues Blütenmeer

Das Blütenmeer, das mir jeden Morgen den Blick verzaubert
Ab den Sommermonaten, und dann fast drei Monate lang, schmücken bei mir eine Überfülle von wunderschönen himmelblauten Blüten die Straße zum nächsten Dorf. Ein echter Hingucker. Ganz unwillkürlich fällt der Blick dorthin, so auffällig, so schön sind sie.
Abends ist von alledem rein gar nichts mehr zu sehen. Wie weggeblasen. Meist übersehe ich die Pflanzen dann sogar. Schließlich haben sie kein ansehnliches oder schmückendes Blätterwerks stehen dort nur sparrige Gerippe, nahezu blattlos. Lediglich am Boden gibt es eine Blattrosette - auch nicht gerade üppig - mit löwenzahnähnlichen Blättern. Dazu später mehr.
Blaue Blume der Romantik
Das auffälligste sind die Blüten. Spätestens seit Novalis seinen 'Heinrich von Ofterdingen' geschrieben und in den Blüten die blauen Äuglein eines verwunschenen Burgfräuleins gesehen hat, gilt die Wegwarte als die 'Blaue Blume' der Romantik.

Die Blüten der Wegwarte strahlen eine besondere Präsenz aus
Es ist schwer zu sagen, was den besonderen Zauber dieser Blüten ausmacht. Vielleicht, dass sie durch keinerlei Blattwerk verstellt sind. Oder weil es so viele sind. Oder weil die Farbe der des blauen Himmels so sehr gleicht - ein so freundliches Blau, nicht so intensiv, tief und 'bedrohlich' wie z.B. beim Eisenhut. Vielleicht ist es aber auch - und das glaube ich am meisten - die besondere Präsenz, die sie ausstrahlen. Wie drückt sich Präsenz aus? Ich weiß es nicht. Und trotzdem ist genau das der Eindruck. Schließlich sind die Blüten am Morgen immer frisch, taufrisch, ganz wörtlich. Und die Ausstrahlung des ewig Jungen, Erneuerten, unverbraucht Frischen teilt sich irgendwie mit.
Die Blüte beginnt ziemlich genau mit Sonnenaufgang, zwischen 4 und 5 Uhr. Und sie sieht dann aus wie ein Kuss an den Morgen. Dann wendet sie sich zur Sonne. Alle Blüten richten sich gen Osten, auch diejenigen, die auf der Westseite des Stängels stehen. Ein klein wenig wandern sie mit dem Sonnenstand mit, und spätestens, wenn die Sonne im Zenit steht, zieht auch sie sich zurück.

Die schon stark verblassten Blüten am Nachmittag
Blühverhalten synchron zum Tagesverlauf
Am frühen Nachmittag ist die Blütenfarbe schon sehr stark verblasst, fast weißlich. Man könnte denken, dass der Farbstoff nicht lichtecht ist. Aber das passiert auch bei bewölktem Himmel, d.h. es handelt sich um einen aktiven Abbauprozess - komplett angepasst an den Rhythmus des Tages.
Die gelben und roten Farben sind die Farben des Frühlings, bis in den Sommer hinein, die Farben des Aufbaus. Die blaue Farbe gehört eher zum Herbst und kündet in aller Regel von abbauenden Tendenzen.
Dieses sehr verlässliche, ausdauernde Wechselspiel von Auf- und Abbau, des Verschwindens und der Wiederkehr - über Monate - hat sie zum Symbol der Treue werden lassen. Die Schöne ist verschwunden, aber am nächsten Morgen ist sie wieder da. Immer. Und immer in gleicher Fülle, Frische und Schönheit. Kein Wunder, dass die Romantiker sie geliebt haben.
Auf- und Abbau-Tendenzen auch im Blattwerk der Wegwarte
Die Wegwarte ist dem Löwenzahn in mancher Hinsicht ähnlich. Beides sind Korbblütler, beide schmecken bitter und wirken auf die Verdauung, beide entwickeln ausschließlich Zungenblüten, die einzeln fast identisch aussehen, und die Blätter, unbefangen nebeneinander gehalten, lassen sich schnell verwechseln. Sieht man nur das bodenständige Blattwerk der Wegwarte, denkt man im ersten Moment, es sei Löwenzahn.

Das Blattwerk ist extrem eingezogen, umfasst z.T. den Stängel oder viele kleine, kaum entfaltete Blätter drängen sich zusammen
Erstaunlich ist jedoch, mit wie wenig Blättern diese doch in der ausgewachsenen Form recht stattliche Pflanze auskommt. Anderthalb Meter kann sie groß werden und sehr viele Verzweigungen ausbilden, und man fragt sich, wo sie die Energie dafür hernimmt? Um so mehr, als die unteren Blätter oft noch von Gräsern beschattet werden (und an den Stängeln wachsen fast keine).
Genau betrachtet sind die Blätter etwas stärker gezähnt als beim Löwenzahn, wirken noch zusammengezogener - und zwar sogar in zwei Richtungen: seitlich und zum Stängel hin. Manchmal findet man Blätter, die so weit zurückgezogen sind, dass die untersten Blattspitzen den Stängel umgreifen! Und wenn sich im Stängelwerk dann doch mal Blattansätze bilden, sind sie unglaublich dicht zusammengedrängt, als wollten sie raus und würden wieder zurückgeholt.
Was in der Blüte tagesrhythmisch passiert, wiederholt sich als Gestus im Blatt, wenn auch als eher statischer Ausdruck. Das Prinzip aber, dass die Pflanze darauf ausgelegt ist, etwas, das sie 'herausgegeben', veräußert hat, wieder hereinzuholen und über diese Art des 'Haushaltens' so viel Beständigkeit entwickelt, ist überall das Gleiche.

Wegwarten-Wurzel. Schön zu erkennen die spiralige Form am Ende
Zu guter Letzt findet sich auch ein Ansatz dazu in der Wurzel. Wie der Löwenzahn bohrt sich die Wegwarte auch in extrem feste und dichte Böden. Dem Element, dem sie am meisten zugeneigt ist, ist die Erde (Feuriges lässt sich an ihr nun gar nicht entdecken, Hinweise auf besondere Säfteprozesse, das Wässrige also, auch nicht. Das Sparrige sieht zwar sehr luftig aus, aber der Stängel ist extrem fest und dicht, also nicht hohl. Bleibt also nur das Erde-Element - meist verknüpft mit Verdauungsprozessen). Und so wundert es nicht, dass sie eine ziemlich kräftige Pfahlwurzel ausbildet, die sich seltsamerweise spiralig verschraubt. Wenn in der Natur ein bestimmter Drehsinn sichtbar wird, hat das immer - je nach Drehrichtung - mit Auf- oder Abbau zu tun. Ich habe nicht genügend Wegwarten ausgegraben - wäre viel zu schade -, um hier mehr Studien anzustellen. Die hier abgebildete Wurzel hat jedenfalls den entgegengesetzten Drehsinn zum Hopfen, der in abbauende Richtung dreht. Also tritt an der Wurzel das (Lebenskraft)aufbauende Prinzip zutage. Vielleicht lässt sich hierin auch einer der Gründe entdecken, warum Chiroiren-Wurzeln (also Wegwarten-Wurzeln) als Kaffeeersatz gerne genutzt werden oder diesem zumindest beigemischt werden.
Die physischen Wirkungen der Wegwarte
Nach allem zuvor Gesagten fallen einem die Wirkungen der Wegwarte quasi von selbst in die Hand. Natürlich wird sie zur Unterstützung von Verdauungsprozessen eingesetzt. Aber was bedeutet das schon. Viele Heilpflanzen rangieren unter dem Stichwort: Verdauungsfördernd. Ganz offensichtlich unterstützt die Wegwarte den 'Rückbau', also das Aufnehmen dessen, was angeboten wird.
Das Organ, was am stärksten mit der Wegwarte korrespondiert, ist die Milz. In der abendländischen Medizin ist dieses kleine Organ, das vor allem im Säuglingsalter zur Vermehrung der weißen Blutkörperchen und damit dem Aufbau der Immunabwehr dient, in der Forschung sehr vernachlässigt worden. Schließlich kann man im Erwachsenenalter auch ohne Milz leben. Allerdings nicht so gut.
Die Wegwarte ist die wichtigste Milzheilpflanze. Sie fördert entscheidend den Aufbau von Lebenskraft (Chi) und Präsenz.
Es gibt nämlich auch einen ganz anderen Blick auf die Milz, der aus der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) stammt. Dort ist die Milz - überraschenderweise - eines der bedeutendsten Organe überhaupt. Dazu muss man wissen, dass in der chinesischen Medizin-Tradition der Arzt dafür Sorge zu tragen hat, dass die Menschen gesund bleiben - ... weniger dass sie von Krankheiten geheilt werden. Es soll also erst gar nicht zu einem Krankheitsausbruch kommen. Dann hätte der Arzt versagt ... und sein Ansehen würde sinken.
Und also ist der Blick darauf gerichtet, so gut wie möglich die Gesunderhaltung zu verstehen. Dabei spielt die 'Lebenskraft', Chi (oder Qi im Japanischen) eine entscheidende Rolle. Sie ist nicht leicht zu definieren, gleichwohl gibt es eine intuitiv gut umrissene Vorstellung davon, was damit gemeint ist. Das Zentralorgan zum Aufbau von Lebenskraft ist nun nach TCM-Lehrmeinung die Milz. Das passt mit den abendländischen Erkenntnissen recht plausibel zusammen. Denn wenn in der Milz Verbrauchtes abgebaut und entsorgt und frisches, die Immunität Stärkendes am selben Ort hergestellt wird, dann steigert das in jedem Fall die Lebenskraft.
Optimal sollte die Wegwarte zur Begleitung in gesundem Zustand eingenommen werden, wenn man phasenweise zu schwächeln beginnt, beispielsweise in den Wechseljahreszeiten am Übergang zum Herbst oder Winter bzw. im Februar, wenn es noch etwas Unterstützung für die Lebensgeister braucht.
Symptomatisch heruntergebrochen und aus der Erkrankungsperspektive betrachtet wird die Wegwarte üblicherweise empfohlen Förderung der Verdauung (falls über das Essen nicht genügen Lebenskraft erschlossen wird), somit auch bei verdauungsbedingtem Kopfschmerz. Natürlich wird sie eingesetzt zur Milzstärkung, auch bei Milzschwellung, bei Stoffwechselschwäche, damit einhergehend zur Gallenanregung, bei Gallensteinen und Gallenschwäche, aber auch bei Diabetes, die ja Lebenskraft bekanntermaßen raubt. Indem sie den Verdauungsprozess effzienter macht, wirkt sie auch Verstopfung entgegen (obwohl Feigen oder Leinsamen sicherlich besser gegen Verstopfung als solche wirken). Im Nebeneffekt wird das Blut gereinigt, was sich auch positiv auf das Hautbild auswirkt. Interessant ist, dass ihr zurückholendes, einholendes Momentum auch genutzt werden kann, um die Ausbreitung von Krampfadern einzudämmen. Bemessen lässt sich ihr Wirken nicht zuletzt an einem ausleitenden Effekt (über die Leber), dass also Stoffe, die der Effizienz der Verdauung entgegen stehen, besser abgeführt werden.
Die seelischen Wirkungen der Wegwarte
Nach oben Gesagtem ist klar, dass die Wegwarte die Wachheit und Präsenz steigert, das Gefühl für das Hier und Jetzt. In unserer Kultur in der heutigen Zeit leiden wir kollektiv unter einer Überbeanspruchung des Großhirns, des Kopfes. Meist sind wir auf unser kritisches Bewusstsein eher stolz, tatsächlich aber trennt uns das Übermaß an Kopfarbeit ab von unserer Gegenwärtigkeit. Im Englischen wird klar zwei Formen von Bewusstsein unterschieden, conscouisness und awareness. Awareness meint dabei vor allem Gegenwärtigkeit - eine unmittelbarere Form von Bewusstsein, die man durchaus auch Tieren zuschreiben kann. Die Wegwarte fördert jene Awareness, das Gegenwärtig-Sein und auf diesem Wege eben die Präsenz. Eine wichtige Heilpflanze, obwohl sie in der Krankheitsbekämpfung - naturgemäß - gar keinen sooo großen Platz einnimmt. Sie ist eine Heilpflanze für die Gesunderhaltung - wenn man so will der Treue zum Leben selbst. Leider gibt es deshalb nicht so viele Wegwarten-Präparate. Wer mehr Chi für sich wünscht, dem kann ich vor allem die CERES-Cichorium-Urtinktur empfehlen (siehe dazu auch den Artikel über Zubereitungsarten).
Die Wegwarte wurde 2020 zur Heilpflanze des Jahres gekürt.